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verbindet
Beitragsbild: Zweierlei Maß Polizeigewalt ohne Konsequenzen

Zweierlei Maß
Polizeigewalt
ohne Konsequenzen

30.9.2019

Die Ausgangslage

Eine der zentralsten Aufgaben der Polizei ist die Ausübung von Gewalt. Hierzu hat sie im Sinne des staatlichen Gewaltmonopols die offizielle Lizenz und die gesetzlichen Befugnisse. Zu dieser Konzeption gehört auch das Bewusstsein davon, dass diese Lizenz missbraucht, diese Befugnisse überschritten werden können. Die ungerechtfertigte oder übermäßige Anwendung von Zwang durch den Staat ist in der bürgerlichen Rechtsordnung deshalb wiederum strafrechtlich zu verfolgen. Dies geschieht ganz überwiegend unter dem Stichwort der Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB). Jedes Jahr werden dazu von den deutschen Staatsanwaltschaften Verfahren gegen mehr als 4.000 Polizeibedienstete abgeschlossen. Verurteilt werden am Ende meist 20¬30 Personen, also weniger als 1%. Das ist wenig. Ohne mit einer grundsätzlichen Kritik an Strafe und Strafrecht brechen zu wollen, ist dieses Phänomen doch politisch wie gesellschaftlich hochinteressant. Um zu verstehen, worin die Gründe dafür liegen und inwiefern sich die Strafverfolgung gegen die Polizei besonders gestaltet, ist zunächst ein kurzer Blick darauf notwendig, wie ein gewöhnliches Strafverfahren abläuft: Wird eine mögliche Straftat bekannt, führt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen durch, um das Geschehen aufzuklären. Die Einleitung eines Verfahrens ist übrigens Pflicht, sobald ein Anfangsverdacht besteht, es darf also nicht willkürlich auf die Bearbeitung verzichtet werden. Dann werden Zeug*innen vernommen, Wohnungen durchsucht oder Telefone abgehört usw. Die eigentliche Ermittlungsarbeit übernimmt dabei bekanntlich die Polizei, sozusagen als verlängerter Arm der Staatsanwaltschaft. Dort melden sich auch die meisten Menschen, die eine Anzeige erstatten wollen. Erhärtet sich nun der Verdacht, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage (in unkomplizierten Fällen beantragt sie einen Strafbefehl). Andernfalls stellt sie das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts ein. Außerdem kann sie unabhängig vom Tatverdacht noch ziemlich beliebig sog. Opportunitätseinstellung verfügen, zum Beispiel gegen Auflage oder wegen Geringfügigkeit. Das geschieht relativ häufig. Es besteht also schon im Ermittlungsstadium ein ganz erheblicher Entscheidungsspielraum. Erfolgt keine Einstellung, geht die Sache an das Gericht und erst dort wird ggf. über die Beweislage und Strafzumessung verhandelt. Erst wenn die drei Stufen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht durchlaufen wurden, kann es also überhaupt zu einer Verurteilung kommen. Im Zusammenhang mit Polizeigewalt gibt es auf jeder dieser Ebenen einige Besonderheiten, die eine Verurteilung systematisch erschweren.

Besonderheiten in der strafrechtlichen Bearbeitung polizeilichen Fehlverhaltens

Bereits die Einleitung des Verfahrens bringt uns zur ersten Besonderheit: Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der tatsächlichen Vorfälle überhaupt nicht zur Anzeige gebracht und entsprechend nicht verfolgt wird. Den amtlich registrierten Fällen steht in allen Deliktsbereichen immer ein gewisses Dunkelfeld der nicht gemeldeten Taten gegenüber. Für Gewalt durch die Polizei dürfte dieses Dunkelfeld außergewöhnlich groß sein. Denn viele Opfer polizeilicher Übergriffe werden sich aus Angst oder aufgrund eines geringen Vertrauens in die Institutionen nicht den Behörden anvertrauen – erst recht nicht der Behörde, aus deren Reihen die Täter*innen kommen. Die Betroffenen müssen zudem mit einer postwendenden Gegenanzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechnen, mit der die beschuldigten Polizist*innen möglicherweise ihre Position zu stärken versuchen. Dass die eigene Anzeige am Ende ohnehin kaum Aussicht auf Erfolg hat, dürfte die Anzeigebereitschaft weiter senken. Die nächste Besonderheit betrifft die Aufklärung. So können in mehr als einem Viertel der Verfahren wegen § 340 StGB schon keine Tatverdächtigen identifiziert werden. In anderen Strafverfahren gelingt dies deutlich häufiger. Bemerkenswert ist diesbezüglich, dass Ermittlungen gegen Polizist*innen – wie alle anderen Ermittlungsverfahren – von der Polizei selbst geführt werden. Dass das problematisch ist, liegt auf der Hand. Teilweise gibt es zwar Abteilungen für interne Ermittlungen, die ursprünglich zur Bekämpfung von Korruption eingerichtet wurden und sich auch mit Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt befassen. Allerdings versehen die dort eingesetzten Beamt*innen zuvor (und unter Umständen auch danach) den regulären Dienst, haben also eher keine grundsätzliche Distanz zum Polizeialltag und bleiben auch organisatorisch weitgehend in die Polizei integriert. Unabhängige Ermittlungsstellen gibt es in Deutschland bislang nicht. Beschwerdestellen sind sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, haben aber meist kaum eigene Ermittlungsbefugnisse. Die Ermittlungsarbeit durch die Polizei gegen sich selbst stellt damit einen weiteren möglichen Faktor für eine weniger effektive Strafverfolgung dar. Wie eine Zeug*innenvernehmung durchgeführt wird, mit welcher Intensität die Aufklärung betrieben wird und wie Aussagen und Sachverhalte bewertet werden hat natürlich erheblichen Einfluss auf das Resultat. Weiter geht es bei den Staatsanwaltschaften. Die Polizei macht zwar die Arbeit, aber die Abschlussentscheidung liegt immer bei den Staatsanwält*innen. Nur wenige Verfahren wegen Körperverletzung im Amt schaffen es über diese Hürde hinaus, die allermeisten werden dort eingestellt. Von den 2017 bei den Staatsanwaltschaften in Deutschland erledigten Ermittlungsverfahren wegen § 340 StGB wurden 94% eingestellt, rund 86% wegen angeblich fehlenden Tatverdachts. In weniger als 2% der Verfahren kam es zu einer Anklage oder einem Strafbefehlsantrag. Diese Einstellungsquoten sind exorbitant hoch. Vor allem die Ablehnung eines Tatverdachts ist sonst deutlich seltener: Mit diesem Ergebnis enden nur gut 40% der Körperverletzungsverfahren gegen gewöhnliche Menschen. Die Beurteilung des Tatverdachts eröffnet der Staatsanwaltschaft ebenso wie die Entscheidungsbefugnis darüber, ob eine Einstellung aus anderen Gründen vorgenommen werden soll, weite Spielräume. Sie erlauben es faktisch nahezu jederzeit, ein Verfahren zu beenden. Nur eine Handvoll der Verfahren erreicht so überhaupt die Gerichte. Im Jahr 2017 gab es beispielsweise für ganze 61 Personen ein Gerichtsverfahren wegen des Vorwurfs der Körperverletzung im Amt – angesichts von jährlich über 4.000 Beschuldigten eine verschwindend geringe Zahl. Von diesen Verfahren wurden nochmals knapp 40% durch das Gericht eingestellt, über 16% endeten mit Freisprüchen. Verurteilt wurden damit rund 44% – also letztlich 27 Personen. Die Strafen setzten sich aus 25 Geldstrafen (nur vier davon mit 90 oder mehr Tagessätzen) und zwei Bewährungsstrafen zusammen. Sowohl die Rate der Verfahren, die bei Gericht landen, als auch deren Verurteilungsquote sind im Vergleich zu anderen Deliktsbereichen also sehr niedrig. Und im seltenen Fall einer Verurteilung ist eine Geldstrafe unter 90 Tagessätzen das realistischste Ergebnis.

Deutungsversuche

Die Strafverfolgungspraxis gegenüber polizeilichen Beschuldigten muss insofern als extrem zurückhaltend bezeichnet werden. Entgegen entsprechender Versuche seitens der Polizeigewerkschaften und aus der Politik lässt sich dies nicht einfach damit erklären, dass eben nur unberechtigte Anzeigen gegen die Polizei gestellt würden. Rechtswidrige Polizeigewalt ist eine gesellschaftliche Realität. Einfallstore für die ersichtlich ungewöhnliche Bearbeitung durch die damit befassten Stellen bilden vor allem die beschriebenen weiten Spielräume bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Weshalb diese letztlich dergestalt ausgefüllt werden, dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. So liegt die Vermutung nahe, dass die Strafverfolgungsbehörden den beschuldigten Beamt*innen von vorneherein ein größeres Vertrauen entgegenbringen und eher geneigt sind, eine Version der Geschichte zu glauben, in denen diese unschuldig sind. Dies gilt erst recht für besonders schwerwiegende Vorwürfe wie schwere Gewalt oder Tötungsdelikte. Die Polizist*innen selbst gelten zudem grundsätzlich als besonders glaubwürdige Berufszeug*innen. Da sie entsprechend ihres Einsatzes in Teams meist auch zu mehreren auftreten und es sich bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung ohnehin um ein komplexes, interaktives und dynamisches Konfliktgeschehen handelt, das verschiedene Interpretationen zulässt, ist die Beweislage für die Betroffenen von Beginn an schwierig. Innerhalb der Polizei dürfte zudem eine gewisse Solidarität dahingehend bestehen, sich gegenseitig zu schützen und gemeinsame Feindbilder zu bekämpfen. Solche Phänomene sind etwa unter den Stichworten cop culture oder Korpsgeist beschrieben worden. Auf Seiten der Staatsanwaltschaften und Justiz ist zudem teilweise eine politische Aufladung erkennbar, die zuletzt in einigen der G20¬Prozesse deutlich zutage trat. Menschen, die vor einem aktivistischen Setting in Auseinandersetzungen mit der Polizei geraten, werden hier als Gesellschaftsfeinde behandelt, die es nicht zu resozialisieren oder wenigstens einfach zu bestrafen, sondern allgemeinwirksam zu bekämpfen und zu besiegen gilt. Erst recht werden sie nicht als Opfer anerkannt: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“ – nicht, weil es keine Gewalt gab, sondern weil die Polizei zurecht zuschlug. Es handelt sich dabei um Ausprägungen einer mit dem Begriff Feindstrafrecht bezeichneten Sichtweise, wonach bestimmte Gruppen als außerhalb der Gesellschaft stehend verstanden werden, sodass gegenüber ihnen rechtsstaatliche Grundsätze nur beschränkt oder gar nicht gelten sollen. In diesem gerechten Kampf darf der Polizei demnach keine zu hohe Zurückhaltung auferlegt werden. Die faktisch weitgehende Straffreiheit von Polizist*innen im Zusammenhang mit dem dienstlichen Einsatz von Gewalt ist insofern weder auf individuelle Fehlentscheidungen, noch auf eine von oben vorgegebene Linie zurückzuführen. Sie ist vielmehr Resultat des Zusammenwirkens vielfältiger organisatorischer, struktureller, subkultureller, psychologischer, juristischer und politischer Faktoren, die ineinander greifen und auf allen Ebenen ihre Wirkung entfalten. Der Prozess der Strafverfolgung ist systematisch durchzogen von immanenten Dynamiken, die eine Aufklärung der Vorfälle und Bestrafung der Verantwortlichen erheblich erschweren. Mit dem bekannten Ergebnis.

Artikel von Benjamin Derin

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